Ein Hoch auf die Dickschädel

Ich habe ein Interview gehört, das mich nicht los lässt. Ein Hirnforscher erklärt den Unterschieden zwischen „leben“ und „lebendig sein“. Und er sagt, warum wir dringend mehr Eigensinn brauchen.„ICH BIN LEBEN, DAS LEBEN WILL, INMITTEN VON LEBEN, DAS LEBEN WILL.“  Klingt dieser Satz von Albert Schweitzer in Dir an?Nicht? Dann bitte ich Dich höflichst, ihn noch ein zweites Mal zu lesen. Ich gebe zu, ich brauchte etwas länger, bevor sich mir seine volle Bedeutung offenbarte.  Inzwischen halte ich das Zitat für existenziell – denn es beinhaltet alles was EXISTENZ ausmacht.  Denn der Arzt und Philosoph schließt nichts aus.

Sein radikaler Satz gilt für ALLES was lebt. – Selbst für das vom menschlichen Standpunkt aus gesehen unbedeutendste, kleinste Lebewesen. (Auch wenn wir noch so oft hören, dass wir dagegen Krieg führen müssten.)  DAS LEBEN ENTFALTET SICH PER SE UND FINDET IMMER NEUE WEGE, UM SICH UNSERER KONTROLLE ZU ENTZIEHEN.  

Aber genau das haben wir in den letzten 100 Jahren ganz offensichtlich kollektiv verdrängt. Das ist wohl die größte Lektion unserer gegenwärtigen Zeit: WIR DÜRFEN LOSLASSEN VOM WUNSCH, ALLES KONTROLLIEREN ZU WOLLEN.  Denn wir haben – wenn überhaupt – nur leblose Materie im Griff: unser berufliches Schreibtischpensum, den Reifenwechsel unseres Autos oder die Wochenend-Einkaufsliste.  MIT ALLEM WAS LEBT, DÜRFEN WIR LERNEN ZU LEBEN. DENN WIR KÖNNEN ES NICHT BESIEGEN.  Der Neurobiologe Gerald Hüther beschreibt das so: „Lernen geht nur über Erfahrung. Wir müssen jetzt die Erfahrung machen, dass unsere alte Kontroll-Strategie eine Illusion war. Das bringt allerdings unser ganzes selbst aufgebautes Weltbild durcheinander.“ 

Aber wovon war dieses Weltbild eigentlich geprägt? – Von Konkurrenz, von der Deutungshoheit der Naturwissenschaft, nackter Vernunft und der Unterdrückung eigener intrinsischer (innerlicher) Bedürfnisse, um in der Gesellschaft einwandfrei funktionieren zu können.  In der modernen Hirnforschung besteht kein Zweifel daran, dass wir extrem bedürftig werden, wenn wir die eigenen Bedürfnisse unterdrücken.  UND BEDÜRFTIGE MENSCHEN SIND NACH ANSICHT VIELER WISSENSCHAFTLER ABSOLUT UNFÄHIG, NEUES ZU ERSCHAFFEN.  Der Grund: Sie sind vollständig damit beschäftigt, im Umgang mit anderen Menschen ihren inneren Mangel zu kompensieren.  Wie? Sie erzeugem Abhängigkeiten, leben ihre Macht in Spitzenpositionen aus oder bekämpfen erbittert Perspektiven, die ihre Wahrheit anzweifeln.

WELCHE MENSCHLICHEN QUALITÄTEN brauchen wir also in dieser Zeit, wo die Hoffnung auf Rettung durch Kontrolle wie eine Seifenblase zerplatzt?  Laut Gerald Hüther benötigen wir: – Menschen, die lernen, ihre eigenen BEDÜRFNISSE WAHRZUNEHMEN UND ZU LEBEN– das TIEFE VERTRAUEN*, DASS DAS LEBEN NIEMALS GEGEN UNS IST (Wir können es auch Anbindung an etwas Größeres oder Spiritualität nennen.) UND: – EIGENSINN (!!!) Ehrlich? Wir brauchen also Dickschädel? Das waren ja bisher alles andere als wohl gelittene Mitglieder der Gesellschaft.  „Das Neue kommt nur in die Welt durch Menschen, die nach eigenen Lösungen suchen“, sagt der Neurobiologe. „Dafür braucht es den Eigensinn ganz dringend.“  

Auch für den Psychologen Hans-Jochen Maaz sind die „Omegas – die Außenseiter“ entscheidend verantwortlich für die Weiter-Entwicklung von Gemeinschaft. Maaz: „Erst ihre Kritik treibt gesellschaftliche Prozesse voran.“  Was bedeutet das für uns? Alles!  NIEMAND KANN UNS VORSCHREIBEN, welches Buch wir lesen, ob die Glotze an ist, ob wir Fast Food essen oder unserer Familie frisches Gemüse servieren…So sind wir die GESTALTER UNSERES EIGENEN LEBENS. Und: innerlich komplett frei. – Selbst dann, wenn äußere Bedingungen anderes suggerieren.  

Der Experte Gerald Hüther appelliert an alle Eltern und Pädagogen:„Wir müssen unseren Kindern helfen, lebendig zu bleiben, starrsinnig ihr Eigenes zu vertreten und die inneren Bedürfnisse zu erfüllen.“  Denn: MENSCHEN MIT EIGENEM WILLEN LEBEN NICHT NUR, SIE SIND DURCH UND DURCH LEBENDIG.

P.S.: Vertrauen ist nicht das gleiche wie Hoffnung. Denn wer hofft, der vertraut noch nicht…P.P.S.: Das komplette Interview mit dem Neurobiologen Gerald Hüther findest Du hier:https://youtu.be/fScdoLRAaiQP.P.P.S.: Hier ein Gespräch mit dem Psychiater Hans-Jochen Maaz:https://reitschuster.de/post/maaz/